Kooperation Fraunhofer IPK – IWO Buenos Aires (Argentinien) zur automatisierten Wiederherstellung von Kulturgütern

Am 7. August 2019 fand eine Veranstaltung zur Anwendung dieser Technologie im Rekonstruktionsverfahren von Dokumente des IWOs Buenos Aires im Berliner Rotes Rathaus statt

Dr. Bertram Nickolay, Abteilungsleiter Maschinelles Sehen des Fraunhofer-Instituts (Copyright: Fraunhofer IPK)

Am 7. August 2019 fand die Veranstaltung „Rekonstruktion der durch Terror zerstörten Archivalien des Instituto Judio de Investigaciones (IWO) Buenos Aires“ im Wappensaal des Berliner Rotes Rathaus statt. In der Veranstaltung wurden die ersten Ergebnisse der Rekonstruktion der Dokumente, die aufgrund des auf dem Gebäude der „Asociación Mutual Israelita Argentina“ (AMIA) – die zentrale jüdische Gemeinde Argentiniens – ausgeübten Bombenanschlags am 18. Juli 1994 zerstört wurden, präsentiert. Es soll daran erinnert werden, dass bei dem erwähnten Anschlag 85 Argentinier ums Leben gekommen sind. Die Dokumente vom „Idisher Visnshaftlejer Institut“ (IWO) (Jiddisches Wissenschaftsinstitut) sind von großer Bedeutung, weil dieses Institut Dokumente über die Geschichte, die Kultur und die Sprachen des jüdischen Volkes erhält, forscht und verbreitet. Es wurde 1925 in Vilnius (heute Litauen) gegründet und schon im Jahr 1928 hat es eine Zweigniederlassung in Buenos Aires (Argentinien) eröffnet. Unter anderem hat das IWO Dokumente zur Geschichte der jüdischen Gemeinschaft in Argentinien, Bücher, Veröffentlichungen und Dokumente, die von den Nationalsozialisten gesammelt und nach Argentinien verlegt wurden, gelagert.

Prof. Dr. h.c. Dr.-Ing. Eckart Uhlmann, Institutsleiter des Fraunhofer-Instituts (Copyright: Fraunhofer IPK)

Die Technologie, die für die automatisierte Wiederherstellung von Kulturgütern, verwendet wird, wurde vom Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik entwickelt. Die verbleibenden Stücke der Dokumente werden ähnlich wie ein Puzzle vom System zusammengesetzt. Dabei werden ausgefeilte Scann- und Mustererkennungstechniken angewendet, damit beschädigte, zerrissene oder geschredderte Dokumente wiederhergestellt werden. Die ganzen Technologien, die dabei angewendet werden, wurden ursprünglich zur Wiederherstellung der zerrissenen Stasi-Dokumente entwickelt. Danach hat das Fraunhofer-Institut bei der Rekonstruktion von zerstörten Dokumente des Historischen Archivs der Stadt Köln, die 2009 unter dem Einsturz des Gebäudes gelitten haben, mitgewirkt.

„Rekonstruktion der durch Terror zerstörten Archivalien des Instituto Judio de Investigaciones (IWO) Buenos Aires“

Die Veranstaltung wurde von Christian Gaebler, Chef der Senatskanzlei des Landes Berlin, Prof. Dr. h.c. Dr.-Ing. Eckart Uhlmann, Institutsleiter des Fraunhofer-Instituts, und Vito Cecere, Beauftragter für Außenwissenschafts-, Bildungs- und Forschungspolitik sowie Auswärtige Kulturpolitik im Auswärtiges Amt, eröffnet. Anschließend präsentierte Dr. Elke-Vera Kotowski, Projektleitung Jüdisches Kulturerbe des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien, die historischen Hintergründe der Entstehungsgeschichte des IWOs. Danach präsentierten Silvia Hansmann, Archivarin des „Fundación IWO“, und Chaskiel Hansman, Präsident des „Fundación IWO“, die aktuelle Situation des Archivs vom IWO. Dr. Bertram Nickolay, Abteilungsleiter Maschinelles Sehen des Fraunhofer-Instituts, und Jan Schneider, Projektleiter Virtuelle Rekonstruktion des Fraunhofer-Instituts, machten eine fachliche Vorstellung der Digitalisierungs- und Rekonstruktionstechnologien, die hinter dem ePuzzler stecken. Schließlich fand ein Empfang im Säulensaal des Rotes Rathaus statt.

Wir haben Herrn Dr. Bertram Nickolay einige Fragen zu seinem Projekt im Fraunhofer-Institut gestellt und nachfolgend können Sie seine Antworten lesen:

Hispanovisión: Herr Dr. Nickolay, was ist das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik und womit beschäftigt sich es?

Dr. Bertram Nickolay: Das Fraunhofer IPK in Berlin steht seit 40 Jahren für Exzellenz in der Produktionswissenschaft. Es betreibt angewandte Forschung und Entwicklung für die gesamte Prozesskette produzierender Unternehmen – von der Produktentwicklung über den Produktionsprozess, die Instandhaltung von Investitionsgütern und die Wiederverwertung von Produkten bis hin zu Gestaltung und Management von Fabrikbetrieben. Zudem übertragen wir produktionstechnische Lösungen in Anwendungsgebiete außerhalb der Industrie, etwa in die Bereiche Verkehr und Sicherheit. Analog dazu gliedert sich das Institut in die Geschäftsfelder Unternehmensmanagement, Virtuelle Produktentstehung, Produktionssysteme, Füge- und Beschichtungstechnik sowie Automatisierungstechnik. Eine enge Zusammenarbeit der Geschäftsfelder ermöglicht die Bearbeitung auch sehr komplexer Themen.

H: Wie genau ist das Projekt der Wiederherstellung von zerstörten Dokumente entstanden?

Dr. Nickolay: Im Oktober 2011 stellte ich, als Vater der Rekonstruktionstechnologie, die Fraunhofer-Entwicklung und das Potenzial ihrer Anwendung im Bereich der Erinnerungskultur auf der internationalen Konferenz „Culturas de la Memoria“ in Mexiko-Stadt vor. Prof. Nestor A. Braunstein, damals Kurator des Instituto Judío de Investigaciones (IWO) und Teilnehmer an einem Podiumsgespräch auf der Konferenz, erkannte sofort die Möglichkeiten der Fraunhofer-Technologie für das Archiv und die Bibliothek des IWO, und stellte mir den Kontakt zum IWO her.

H.: Wieviele Dokumente hat Ihr Institut bisher rekonstruiert?

Dr. Nickolay: In der jetzigen Projektphase wurde nur eine repräsentative Stichprobe digitalisiert und rekonstruiert. Die Stichprobe umfasste mehrere größere Kartons.

Jiddisches Wissenschaftsinstitut (IWO)

H.: Wie kam es zur Kooperation zwischen dem Fraunhofer IPK und dem IWO Buenos Aires?

Dr. Nickolay: Im Jahre 2012 habe ich das erste Mal das IWO in Buenos Aires zu einer Bestandsaufnahme besucht. Hieraus entstand direkt die Idee einer engeren Zusammenarbeit.

H.: Wie ist der jetzige Ist-Zustand der Rekonstruktion diesen zerstörten Archivalien und wie lange wird die Rekonstruktion voraussichtlich dauern?

Dr. Nickolay: Derzeit läuft eine einjährige Machbarkeits- und Konzeptphase. Im Rahmen dieser Phase wird erst abgeschätzt werden, wie lange es dauern wird die gesamten zerstörten Bestände zu digitalisieren und zu rekonstruieren.

H.: Wie wird dieses Projekt finanziert? Mit öffentlichen oder privaten Geldern?

Dr. Nickolay: Die derzeitige Projektphase wird mit Mitteln vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland, also Mitteln der öffentlichen Hand Deutschland, finanziert.

H.: Haben Sie die entsprechenden Kapazitäten, um die Nachfrage nach der Rekonstruktion von mehreren Archivalien zu sättigen?

Dr. Nickolay: Durch die Zusammenarbeit mit Partnerunternehmen, können kurzzeitig die Kapazitäten vergrößert werden.

H.: Warum ist es wichtig zerstörten Dokumente zu rekonstruieren? Welche Erfahrungen hatten Sie persönlich durch Ihr Projekt?

Dr. Nickolay: Die beim Anschlag zerstörten Dokumente des IWO sind Schätze der jiddischen Literatur und zum Teil einzigartige Zeugnisse des Holocaust. Daher ist die Rekonstruktion für das kulturelle Welterbe und die geschichtliche Aufarbeitung enorm wichtig. Für mich persönlich, einen Förderer und Liebhaber der östjüdischen Kultur, ist es mir eine besondere Freude mit der von mir entwickelten Technologie behilflich zu sein dieses kulturelle Erbe der Nachwelt verfügbar zu machen.